Natur – ein dünner Ort mit tiefgehender Zeit?

„Wir waren hoch oben in den Bergen Skifahren. Plötzlich liefen mir die Tränen übers Gesicht und ich war völlig von einem unbeschreiblichen Gefühl der Präsenz überwältigt.. Wir sind nicht allein, dachte ich bei mir selbst. Ich denke oft an dieses Gefühl zurück und sehne mich danach. Es ist schwer, Worte zu finden, die es beschreiben, aber ich denke, es geht um etwas, das wir einfach nicht verstehen können. Etwas Größeres als „wir“ – das „wir“ nur wahrnehmen und fühlen können. In der Schönheit der Natur können wir dies so deutlich wahrnehmen. Vielleicht ist es Gott, ich weiß es nicht. In den Bergen, am Meer oder im Wald fühlt sich das Leben irgendwie echter an.“ - Anonyme

Lundhags Journal traf Are Norrhava, einen Pastor und der Autor des Buches „Tiefe Zeit und dünne Orte“, in dem er über Natur und Spiritualität spricht.   Are Norrhava ist oft im schwedischen Radio sowie in seinem Podcast unter demselben Namen zu hören. 

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Fotograf: Greger Hatt

„Obgleich unsere Gesellschaft in der Moderne eine gründliche Entsakralisierung durchgemacht hat, glaube ich, dass wir tief im Inneren immer noch einen tiefen Respekt vor der Natur und den dort lebenden Wesen hegen“, sagt Are Norrhava.   Seine Absicht ist es, inmitten unserer oberflächlichen und individualistischen Zeit in vielen von uns Zeichen einer tiefen Sehnsucht nach einem tieferen Leben, nach Sinn und nach Glauben zu entdecken. Es gibt ein Suchen nach „dünnen Orten“, in denen das Leben wirklich gelebt wird.

Mit dünnen Orten meint Are Norrhava Orte oder Erlebnisse, bei denen man das Gefühl hat, dass die Welt, wie wir sie kennen, durchsichtig und oberflächlich ist. In diesem Moment können wir eine Kommunikation mit und Zugehörigkeit zu etwas spüren, das größer ist als das eigene Selbst.   Die Ewigkeit findet sich im Hier und Jetzt.  Ich glaube, dass viele Menschen genau das in der Natur finden, vielleicht weil es dort einfacher ist, die Sinne zu öffnen.“   Are beschreibt, was vielen schwer fällt, in Worte zu fassen.  „Diejenigen von uns, die in die Kirche gehen, nennen dies natürlich Gott." Are fährt fort und sagt, der Theologe Marcus J. Borg habe es so gut gesagt. Er hat es folgendermaßen ausgedrückt: „Ein dünner Ort ist, wo sich Dein Herz öffnet“.  

„Tiefe Zeit“ ist ein Ausdruck für jene Momente, in denen die Ewigkeit mit der chronologischen Zeit auseinander zu brechen scheint.   Sie wird ein flüchtiger Blick in die Ewigkeit, könnte man sagen.   Are Norrhava meint, dass wir, wenn wir „tiefe Zeit“ und „dünne Orte“ erleben, die positive Erfahrung machen, fester auf der Erde zu stehen und manchmal sogar zu blühen, als wären wir selbst ein Teil der Natur. „Ich sehe mit meinem inneren Auge den Baum, der nahe am Wasser wächst.  Wenn wir uns die Wurzeln als das Herz des Baumes denken, dann greifen wir nach der tiefen Quelle. Mit anderen Worten, wenn wir Dinge tun, die uns gut tun, beispielsweise wenn wir Zeit in der Natur verbringen, haben wir, wenn Du so willst, mehr Möglichkeiten, die Nahrung aufzunehmen, die uns das frische Quellwasser bietet.  

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Jemand hat einmal gesagt: ‚Weisheit ist, die Harmonie der Dinge zu kennen, Freude ist, im Takt damit zu tanzen‘.   Die westliche Gesellschaft hat diesen Rhythmus in vielerlei Hinsicht verloren.“   Der Sinn für das Ganze, für das große Ganze, ist zerbröckelt, doch Are Norrhava glaubt, dass das Suchen und die Sehnsucht der Menschen den Weg nach Hause weisen.   Er verweist auf mehrere Studien, die darauf hindeuten, dass es viel häufiger vorkommt, als man glauben mag, dass Menschen transzendentale Erlebnisse gehabt haben. Jeder dritte bis vierte Engländer, Amerikaner oder Finne antwortete zum Beispiel mit Ja auf die Frage, ob er sich irgendwann in seinem Leben einer größeren Präsenz oder Kraft bewusst gewesen sei oder sich davon beeinflusst gefühlt habe – sei es Gott oder etwas anderes – irgendwie wesentlich anders als unser tägliches Selbst, schreibt Are. 

Selten haben wir ein so starkes Gefühl, dem Sinn des Lebens und uns selbst so nahe zu sein wie in den Bergen oder im Wald.  Viele würden ganz offen sagen, dass sie eine spirituelle Erfahrung in der Natur gemacht haben.  Gleichzeitig sind Schweden die Menschen auf der Welt, die sich am meisten von organisierter Religion distanzieren.  Genau diese Resistenz erforscht David Thurfjell, Professor für Religionsgeschichte, in seinem Buch People of the forest („Waldvolk“):  Wie die Natur zur Religion des schwedischen Volkes wurde. Bei seiner Arbeit an dem Buch hat er schwedische Waldbesucher interviewt und gefragt, warum sie Waldspaziergänge machen. 

„Ich wollte einfach nur auf einem Felsen am Waldrand sitzen, um mich auszuruhen. Das Licht drang durch die Birken und Tannen und die nahen Wiesen.   Als ich dort saß, kam ein Reh durch die Bäume gelaufen.   Es blieb stehen, um hier und da ein paar Happen zu äsen.   Ich saß nur da und schaute zu.  Schließlich war das Reh nur noch wenige Meter entfernt, immer noch vertieft in Gras und Kräuter auf dem Waldboden.   Plötzlich hob das Reh den Kopf und unsere Blicke trafen sich für eine lange Sekunde, bevor die Ricke loslief und zwischen den Bäumen verschwand.   Der Bann war gebrochen, aber für eine Sekunde war ich so sehr Teil dieses Ortes gewesen, dass ich mich nicht mehr wie ein Individuum fühlte.“   (Aus „People of the Forest“; „Waldvolk“)

Eine wiederkehrende Antwort in Interviews mit David Thurfjell ist das Gefühl, eins mit anderen Spezies und dem Universum zu sein. Viele beschreiben das Gefühl des Verlusts des Selbstseins und der Dankbarkeit, zusammen mit Gefühlen von Freiheit, Schönheit, Bedeutung und Zugehörigkeit.   Einige verwenden Wörter wie „heilig“ und „von der Natur geleitet“, während viele andere davon absehen, ihre Erlebnisse als spirituell zu beschreiben.   Einer von denen, die David Thurfjell interviewt, Viktor, beschreibt seine Weltsicht als streng wissenschaftlich, beschreibt seinen Geisteszustand jedoch als „außerhalb des Normalen“, wenn er im Wald ist.  Als Thurfjell fragt, warum er flüstert, während er darüber spricht, antwortet Viktor:  „Ich möchte diese Dinge vor meinem Intellekt verbergen.“   

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Photo: Nina Hemmingsson

Ökologie, die Wissenschaft von den Wechselwirkungen in der Natur, leitet sich von den griechischen Wörtern für Heim (oikos) und Harmonie (logos) ab und beschreibt das Ordnungsprinzip, das alles Sein in einer übergreifenden kosmischen Ordnung zusammenfügt.  Bei der Ökologie geht es um Zusammenhang, Beziehungen und das Ganze.  All dies kommt einer spirituellen Ansicht ziemlich nahe. 

„Je mehr man die Natur studiert, desto überwältigender ist das Gefühl, wie fantastisch alles organisiert ist. Es gibt eine Intelligenz, die so unvergleichlich ist, dass ich nur zu dem Schluss kommen kann, dass es einen Grund gibt, einen Schöpfer dahinter.“ Dies waren die Worte des italoamerikanischen Forschers Carlo Rubbia, der 1984 den Nobelpreis für Physik erhielt und für einen bedeutenden Wandel in der Haltung zwischen Religion und Wissenschaft verantwortlich war.   Und Albert Einstein, einer der größten Wissenschaftler aller Zeiten, war dafür bekannt, den Gottesbegriff mit der Natur zu vergleichen und sagte, dass das Studium der Physik und der Naturgesetze oft ein „besonderes religiöses Gefühl“ hervorrufe.   Sein Punkt war, dass jeder „denkende Mensch“ voller Dankbarkeit und Demut ist, wenn er sich dem Aufbau und der Schönheit der Natur stellt. 

 

Wir bei Lundhags sind uns dessen bewusst, was oben von Are Norrhava und in David Thurfjells Werk „People of the Forest“ beschrieben wurde – das Gefühl der Zugehörigkeit, eins mit der Natur zu werden, Teil von etwas viel Größerem zu sein als man selbst. Genau das fasziniert uns und macht uns verrückt nach der Natur.  Diese fantastischen Naturerlebnisse sind magisch – die Zeit steht still. Wir können uns voll und ganz der Idee anschließen, dass die Natur unsere Religion ist – ob unsere Erfahrungen etwas mit Gott zu tun haben oder nicht, wissen wir nicht, aber wir wissen, dass wir die Natur lieben und andere ermutigen möchten, sie zu erleben!