EIN RENTIERJAHR – Ein Jahr mit einem Rentierzüchter
Das Rentierjahr ist ein von Jahreszeit, Wetter und dem Bewegungsmuster der Rentiere gesteuerter Zyklus. Jedes Jahr ist einzigartig. In verschiedenen Jahren müssen ungewöhnliche Maßnahmen ergriffen werden. Was früher galt, gilt nicht mehr in einem sich verändernden Klima und in einem Umfeld mit ständigen Herausforderungen und Veränderungen.
Es ist eiskalt unterm Kragen. Eine Kälte, die sich festsetzt und durch Mark und Bein geht. Ich ziehe meine Handschuhe wieder an, nachdem ich die Mütze im harten Gebirgswind festgebunden habe, und freue mich, dass dies nur für wenige Wochen im Jahr mein Arbeitsplatz ist. Für die Rentierzüchter ist das der Arbeitsalltag, trotz Kälte und Unwetter. Ola nimmt die Seitenabdeckung des Schneemobils ab, das fast 30.000 km gelaufen ist. Es scheint wieder was kaputt zu sein. Ich haben nicht einmal die Kraft, darüber nachzudenken, was es sein könnte und schaue über die weißen Weiten des Gebirgszugs Vindelfjällen, während Ola mit seinem großen Outdoormesser gegen etwas klopft, was ich für den Anlasser halte. Der Wind peitscht uns ins Gesicht und jede Schneeflocke fühlt sich im Schneesturm wie eine Nadel auf der Haut an. Nachdem er endlich das Schneemobil zum Laufen gebracht hat, können wir die 60 km bis zu den Rentieren mit den Schneemobilen zurücklegen. Wenn wir vor Ort sind, dann beginnt erst die Arbeit.
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„JAHKI II LEAT JAGI VIELLJA“ Das eine Jahr ist nicht der Bruder des anderen/Ein Jahr ist nicht wie das andere
„Das wird ein langer Tag, nur, dass du es weißt“, sagt er. Ich weiß, dass es auch bedeuten kann, dass sie die Rentiere eine Zeit lang rund um die Uhr bewachen müssen, um sie nicht im Wald zu verlieren. Es ist November und jetzt bewachen die Rentierzüchter die Rentiere, um dann die Herde in das Scheidegehege zu bringen. Dort holt jede der beiden Wintergruppen ihre Rentiere aus der Herde heraus, um sie dann auf die jeweilige Winterweide zu bringen.
Eine Wintergruppe des Samendorfes Grans Sameby besteht in der Regel aus zwei Rentierzüchtern und ihren Rentieren. In diesem Jahr wird diese Siidá/Wintergruppe zum Weideland am See Slipstensjön ziehen. Im vergangenen Jahr waren sie in Sorsele, weil die Weidebedigungen so schlecht waren, dass mit Heu und Pellets zugefüttert werden musste. Das ist jetzt immer öfter erforderlich, da sie im Winter mittlerweile mit schrumpfenden Weideflächen, Forstwirtschaft, Landerschließung und Klimawandel zu tun haben. Das Zufüttern ist im Winter zu einem notwendigen Übel geworden. Früher gab es noch sehr viele alte Baumbart-Wälder, in die man die Rentiere führen konnte, wenn die Weidegebiete vereist waren. Die Tiere zu füttern ist langfristig nicht nachhaltig, aber wenn das Futter in den Weidegebieten nicht ausreicht oder es einen schlechten Weidenwinter gibt, müssen die Rentierzüchter die Rentiere zusätzlich füttern. Wenn es mitten im Winter regnet und lange, milde Perioden mit Tau- und Wetterwechsel gibt, legt sich das Eis wie eine Decke auf die Nahrung der Rentiere und die Weidegebiete sind für sie nicht nutzbar.
Kein Tag ist wie der andere. Den Rentiere durch die Jahreszeiten zu folgen, ist eine Selbstverständlichkeit für einen Rentierzüchter, der für seine Tiere lebt. Ein Leben mit den Tieren zu führen, ist nicht nur eine Herausforderung, sondern kann auch sehr bereichernd sein, wenn man den Lohn für all die harte Arbeit bekommt.
Als ich mich entschieden hatte, über ein Jahr mit einem Rentierzüchter zu schreiben, fragte ich ihn, welcher Monat sein Lieblingsmonat sei, und er antwortete sofort und ohne zu zögern: „November“. Das fand ich unbegreiflich, denn für mich ist das einer der schweren und dunklen Wintermonate im Rentierwald. November ist sein Lieblingsmonat, denn dann sieht er, dass die Rentiere in gutem Zustand sind, vor dem langen Winter, in dem man an den meisten Tage einen Rand markiert und nach Randspuren Ausschau hält. Im November ist er rund um die Uhr in der Nähe der Herde. „Ein Rentier, das im Gebirge nach Futter sucht, ist das Schönste, was es gibt, und dann ist es auch am stärksten und schönsten“, sagt er und seine Augen leuchten.
Die Rentierzüchter sind es gewohnt, im Winter keinen Tag frei zu haben, und die langen Arbeitstage werden länger und länger. An einige Tagen müssen die Rentiere auch nachts bewacht werden, damit man nicht die Kontrolle über die Herde verliert.
„Ein Rentier, das im November im Gebirge nach Futter sucht, ist das Schönste, was es gibt, und dann ist es auch am stärksten.“
Die Belohnung für all die harte Arbeit, für den langen Winter und die schweren Tage. Sie schaut ihn mit ihren freundlichen Augen an, die kluge Rentierkuh, die immer vorn ist und die Herde bei der Wanderung anführt. Sie kommt immer zuerst zu ihm. Sie hat dieses Jahr ein großes, schönes und gesundes Kalb bekommen, mit der Zeichnung „Lamskogirját“, eine Zeichnung mit großen, kontrastreichen Flecken. Er streichelt das weiche Fell des Kalbs und flüstert ihr zu: „Jetzt bist du zu Hause“. Der Duft des Sommers kommt mit dem Gebirgswind. Ein neuer Anfang, ein neues Jahr.
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giđđa, giđđageassi
MAI–JUNI, DIE KÄLBER WERDEN GEBOREN
Das Rentierjahr beginnt im Mai mit der Geburt der Kälber. Die Tage sind milder, der Schnee schmilzt und das Futter ist leicht zugänglich. Die Rentierkühe kehren zur Geburt ihrer Kälber in der Regel in das gleiche Gebiet zurück, in dem sie selbst geboren wurden. Eine Rentierkuh, eine Vaja, ist etwa 225 Tage trächtig. Ein Kalb kann bereits kurz nach der Geburt auf den Beinen stehen und seiner Mutter folgen. Die Rentierzüchter bleiben in der Nähe, um in dieser sehr sensiblen Zeit die Rentierherde zu bewachen. Störungen, wie z. B. Raubtiere oder Schneemobilverkehr, können dazu führen, dass die Kälber verlassen werden und sterben. Die Rentierkuh braucht Ruhe, um sich um ihr Kalb zu kümmern.
Die Rentiere weiden im Frühsommer in Birkenwäldern, Tälern und Feuchtgebieten, in denen das Nahrungsangebot üppig ist. Viel Nahrung ist wichtig, damit sich die Rentiere vom Winter erholen können. Die Kälber trinken zunächst Milch, ernähren sich aber schon bald von Gras und wachsen schnell.
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geassi, čakčageassi
JULI–AUGUST, KÄLBERMARKIERUNG & SOMMERWEIDE
Mücken und Wärme treiben die Rentiere nach Westen. Nach Mittsommer ist es Zeit für das Zusammentreiben und die Kälbermarkierung. Die Familie und viele Verwandte begleiten die Rentierzüchter auf die Sommerweide. Das ist ein beliebtes Ereignis im Rentierjahr. Dann ist es rund um die Uhr hell und die Rentiere steuern den Tagesrhythmus. Während der Kälbermarkierung werden die Rentiere mehrmals mithilfe von Hunden und Geländefahrzeugen zusammengetrieben und zu einem der in der Nähe befindlichen Rentiergehege gebracht. Meist erfolgt die Kälbermarkierung nachts. Dank der Mitternachtssonne ist es hell und es ist kühler als am Tag. So werden die Rentiere nicht so stark beeinträchtigt. Nach 6–8 Stunden muss die Herde freigesetzt werden, um zu fressen und zu ruhen. Jedes Rentier ist im Besitz von jemandem. Ein spezielle Ohrenzeichen zeigt, wer der Eigentümer ist. Jedes Kalb wird mit der gleichen Marke wie die Kuh gekennzeichnet, sodass auch das Kalb dem selben Besitzer gehört. Nach der letzten Kälbermarkierung des Sommers dürfen die Rentiere frei weiden und sich vor dem Herbst und der Schlachtzeit satt zu fressen.
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čakča
SEPTEMBER, SCHLACHT & JAGD
Anfang September müssen die Rentierzüchter alle Rentiere wieder für die Bullenschlachtung zusammentreiben. Die Rentierherde wird zum Schlachtgehege auf dem Björkfjäll geführt. Die Rentierbullen haben gut zugelegt. Es ist an der Zeit, sie zu schlachten, bevor die Brunft beginnt. Der größte Teil des Jahreseinkommens eines Rentierzüchters stammt aus dem Verkauf von Fleisch in Verbindung mit der Schlachtung. Die Bullenschlachtung ist eine schwere Arbeit. Die gesamte Rentierherde muss systematisch durchgegangen werden. Die kräftigen Bullen werden eingefangen und zum Schlachtplatz gebracht. Schlachter und Tierärzte sind vor Ort, um die Rentierkörper zu prüfen und zu inspizieren. Ein Teil des Fleisches dient als Nahrung für die Rentierzüchterfamilien für den Rest des Jahres. Für die Kinder ist es ganz natürlich, dabei zu sein und zu sehen, woher das Fleisch kommt.
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čakčadálvi
OKTOBER, RENTIERTRIEB & HERBSTSAMMLUNG
Am Ende des Herbstes wird die gesamte Rentierherde des Samidorfes zusammengetrieben und dann in kleinere Winterweidegruppen aufgeteilt. Die Weidebedingungen verschlechtern sich, wenn der Schnee fällt. Sobald der Schnee fällt, beginnen die Rentierzüchter die Ränder zu beobachten und die Rentiere zu sammeln. Die Rentierscheidung beginnt im Zeitraum Oktober bis Dezember. Der Winter ist lang und schwer. Ein nasser Frühwinter mit schmelzendem und übertfrierendem Schnee sorgt für eine dicke Eisdecke auf dem Boden, die die Weidegebiete für die Rentiere „schließt“. In einem guten Winter ist es für die Rentier kein Problem, an Nahrung zu gelangen. Ein guter Winter für die Rentierweide zeichnet sich durch trockenen und kalten Schnee aus. Allerdings darf die Schneedecke auch nicht zu tief sein, da die Rentiere sonst zu viel Energie für das Graben bis auf den Boden aufwenden müssen.
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čakčadálvi
NOVEMBER, RENTIERTRIEB & RENTIERSCHEIDUNG
Jeder Rentierzüchter holt seine Rentiere aus der Herde und zieht mit ihnen zu den Winterweiden. Das dauert mehrere Tage. Wenn die natürlichen Zugwege durch Straßen, Kahlflächen, Bergwerke und Stauseen zerstört werden, müssen die Rentiere per Lkw transportiert werden. Immer wieder wird das Gehege mit Rentieren gefüllt, die auf verschiedene Pferche verteilt werden. Der Grundriss eines Scheidegeheges sieht aus wie eine Blume mit Blütenblättern. Bei Dämmerung wird der Generator gestartet und die Lampen leuchten. Die Tage sind kurz, aber die Arbeit muss erledigt werden. Wenn die gesamte Herde des Dorfes in kleinere Herden aufgeteilt ist, kann der Umzug ins Winterweideland beginnen.
Die Winterweidegebiete der Gebirgssamen liegen im Waldgebiet. Die Waldsamendörfer und Konzessionsamensdörfer haben ihre Rentiere immer im Waldgebiet. Auch die Waldrentiere werden je nach Jahreszeit und Weidebedingungen an unterschiedliche Orte gebracht.
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dálvi, giđđadálvi
DEZEMBER–APRIL, WINTERWEIDE IM WALD
Der Winter ist die kritischste Jahreszeit im Rentierjahr. Damit die Rentiere überleben können, ist eine gute Winterweide erforderlich. Reicht das Nahrungsangebot nicht aus, müssen Pellets und Heu zugefüttert werden. Wenn die Rentiere aufhören, im Schnee zu graben und umherwandern, bedeutet das, dass sie nicht an die Flechten unter der Schneedecke herankommen. Wenn sie erschöpft sind, können sie nicht graben und müssen dann auf andere Flächen gebracht werden oder Zusatzfutter erhalten. Die Baumbart-Wälder, die früher als Reserveweide dienten, sind heute durch Forstwirtschaft und Umweltzerstörung dezimiert. Die Rentierzüchter fahren jeden Tag die Ränder des Weidegebiets mit dem Schneemobil ab, um sicherzustellen, dass die Rentier dort sind, wo sie sein sollen, und bringen Sie woanders hin, wenn die Nahrung aufgegraben und aufgefressen ist. Die Rentierzüchter schützen sie auch vor Raubtieren.
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giđđadálvi, giđđa
APRIL–MAI, FRÜHLINGSAUFTRIEB
Ende April können die Rentiere wieder in die Berge getrieben werden. Der lange Frühlingszug von 360 km ist anspruchsvoll für Rentiere, Rentierzüchter und Hunde. Die Rentierzüchter ziehen mit der Herde jeweils 10 bis 30 km pro Tag, und passen die Strecke an die Ausdauer und das Wohlbefinden der Rentiere an. Jede Nacht wird auf einer Koppel pausiert, wo die Rentiere über Nacht eingeschlossen und vor der nächsten Etappe mit Heu und Pellets gefüttert werden. Trächtige Rentierkühe müssen geschützt werden, wenn sie die Berge erreicht haben, da sie ihre Kälber verlieren können, wenn sie unter Stress stehen. Daher gibt es in den sensibelsten Zeiten ein Schneemobilverbot in den Bergen. Sobald man mit den Rentieren aus dem Waldland herauf kommt und an den Südhängen freie Stellen mit frischer Frühlingsnahrung zu finden sind, bekommen die Rentiere neue Energie. Der Rentierzüchter kann sich ein wenig ausruhen, der Winter ist vorbei und schon bald erwarten ihn neue Kälber und das neue Rentierjahr.
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